Die Welt, Montag, 13. November 1989, S. 13

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Leere Regale

Von Hanna Gieskes

Die öffnung der Grenzen beschert dem Handel in der Bundesrepublik einen Umsatzschub. Leere Regale Im Westen werfen viele Fragen auf.

Das hat die Wohlstandsgesellschaft bisher nicht erlebt: Menschen stürmen Geschäfte. Südfrüchte und Frischgemüse, Mangelwaren in der DDR, finden reißend Absatz. Beim Handel in den grenznahen Orten klingeln die Kassen. Verkäuferinnen wie Verbraucher (West) haben Verständnis. Sie sind, anders als Verbraucher (Ost), daran gewöhnt, daß fehlende Bestände nach dem Wochenende aufgefüllt werden.

Die Wiedersehensfreude hat im Einzelhandel Kräfte freigesetzt, von denen niemand glaubte, daß sie überhaupt vorhanden sind. Wer hätte nach dem unwürdigen Gezerre um den Dienstleistungsabend gedacht, daß in der saturierten Bundesrepublik Geschäfte an einem normalen Samstag und sogar sonntags öffen können? Daß Verkäuferinnen und Verkäufer, deren Feierabend nach Ansicht der beiden zuständigen Gewerkschaften DAG und HBV unantastbar ist, bereitwillig ein freies Wochenende opfern? So geräuschlos ist im Handel noch nie eine heilige Kuh geschlachtet worden

Darüber hinaus stellt der Einzelhandel in diesen Tagen unter Beweis, daß er zu Höchstleistungen fähig ist. Zum Beispiel das KaDeWe in Berlin, Flaggschiff der Warenhauskonzerns Hertie: Jeder Besucher, der von jenseits der Mauer kam, wurde mit einer Gratis-Tasse Kaffee empfangen. Um die Banken zu entlasten, richtete das Warenhaus einen Schalter für das Begrüßungsgeld ein. Das war ein organisatorisches Meisterstück: Der Kaffee für Hundertausende mußte gekocht und verteilt, der Schalter besetzt und mit 100-Mark-Scheinen ausgestattet werden. Das es im vollbesetzten Warenhaus bei herrschender Personalknappheit gelang, zeugt von hoher Flexibilität.

Doch Gesten der Fürsorge können nicht alles sein. Vordringlich kommt es darauf an, die Versorgungslage der Menschen in der DDR zu bessern. Der deutsche Lebensmittel-Einzelhandel, leistungsfähig wie kein anderer in der Welt, ist aufgerufen, bei der Lösung der Probleme zu helfen. Seine großen Erfahrungen vor allem in der Logistik sind gefragt in einem Land, wo der örtliche HO-Laden nur verwelktes Gemüse anbieten kann, obwohl es vor der Stadt auf großen Feldern angebaut wird. Die DDR braucht für die Versorgung ihrer Bürger Systeme, die schnellstmöglichen Transport der Ware vom Erzeuger zum Verbraucher garantieren. Für einen Leibbrand oder Tengelmann gehören solche Aufgaben zum Tagesgeschäft. Sie sollten ihre Erfahrung nicht für sich behalten.

Allerdings: Der Möglichkeit, Frischware in der DDR anzubieten, steht neben der fehlenden Logistik ein irrsinniges Subventionssystem entgegen. Gemüse oder Brot kosten beim Erzeuger beziehungsweise Hersteller mehr als im Laden. Das führt dazu, daß Bauern Brot im Handel kaufen, um es an Schweine zu verfüttern. Die Führung der DDR wird solche Ungereimtheiten beseitigen müssen. Wenn das gelingt, eröffnen sich für den Einzelhandel der Bundesrepublik neue Aussichten, bis hin zu Gemeinschaftsunternehmen in der DDR oder sogar Niederlassungen vor Ort. Das sind völlig andere Aufgaben als jene, die sich den Handelsunternehmen in der Bundesrepublik stellen. Hier herrscht der Überfluß. Der Verbraucher (West) ist so verwöhnt, daß auf ihn ein normal ausgestatter Supermarkt keinen Eindruck mehr macht. Zwar deckt er seinen Grundbedarf bei Aldi, aber darüber hinaus ist sein Anspruch hoch. Er will Fleich und Wurst nicht mehr abgepackt in Selbstbedienung kaufen. Im Laden sucht er mehr als nur die Möglichkeit, seinen Einkaufswagen preiswert zu füllen. Er will Bedienungstheken. Er kauft Qualität. Die Zahlen beweisen es: Bei abnehmender Bevölkerung und konstanten Nahrungsmittel-Preisen sind die Umsätze der Großen des Lebensmitteleinzelhandels in diesem Jahr um fünf Prozent gestiegen. Seine Investitionen stehen in den kommenden Jahren unter dem Motto "schöner einkaufen".

Den Besuchern aus der DDR genügt es, wenn sie überhaupt das kaufen können, was sie haben möchten. Unabhängig von Bedienungstheken und Erlebnishandel sorgen sie für einen Umsatzschub. Die Größenordnung läßt sich ausrechnen: Wenn bis zum Jahresende fünf Millionen DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld in westdeutsche Ladenkassen tragen, kommen 500 Millionen Mark zusammen. Der Einzelhandelsumsatz, der in diesem Jahr rund 470 Milliarden Mark betragen wird, würde damit um knapp ein Prozent wachsen.

Doch es kann mehr werden: Viele, die herüberkommen, haben Westgeld im Sparstrumpf. Hinzu kommt Hilfe durch Freunde und Verwandte. Außerdem müssen sich rund 120000 Menschen, die in den vergangenen Monaten in den Westen flüchteten, von Grund auf neu einrichten. Das kostet etwa 10 000 Mark pro Haushalt. Alles in allem kommt eine erkleckliche Summe auf den Einzelhandel zu.

Den Händlern sei es gegönnt. Gewinn ist der Unternehmerlohn in der freien Marktwirtschaft. Sie sollten aber ihre Zufriedenheit nicht allzu deutlich zeigen. Sonst wird man ihnen vorwerfen, sie hätten ihre menschenfreundlichen Aktionen nur unternommen, um ein ordentliches Zusatzgeschäft zu machen.


  Frederik Ramm, 2001-05-06