Die Geschichte des RailServers

Der RailServer hat eine lange und zuweilen durchaus turbulente Geschichte. Der RailServer ist eines der größten und folgenreichsten Projekte, das ich bislang durchgeführt habe, und es steckt auch ein gutes Stück "persönlicher Touch" darin. Ich habe viel gelernt. Und das ist die Geschichte...
Dezember 1993
Ich erhalte einen Account auf einem Unix-Rechner am Rechenzentrum und beginne, mich mit dem Internet zu beschäftigen.

Anfang 1994
Ich lese Newsgroups, u.a. soc.culture.german, und helfe Leuten, die Bahnverbindungen suchen, von Hand.

Samstag, 21. Mai 1994
Ich bastle mir eine eigene WWW-Homepage mit eigener Unterseite zum Thema Bahnauskünfte (auf der die Leute gebeten werden, mir eine Mail zu schreiben, wenn es konkrete Fragen gibt). Ich schreibe eine Mail an Robert Bowdidge, der eine umfangreiche Eisenbahn-Webseite hat, mit der Bitte um einen Link.

Mittwoch, 8. Juni 1994
Ich habe ein automatisches Programm erstellt, das Bahn-Anfragen aus meiner persönlichen Mail herausfiltert und mit Hilfe der Bahnauskunft auf Diskette beantworten kann. An einige Freunde schicke ich die Aufforderung:

Hallo Leute,

(diese Mail geht an alle, deren eMail-Adresse mein ELM in der Alias-Liste hat)

Ich habe gerade ein kleines Programm zur Ermittlung von Bahnverbindungen im Netz fertiggestellt und wuerde mich freuen, wenn ihr beim Ausprobieren mithuelfet (es lebe der Konjunktiv). Hier das Info-File:

   TESTBETRIEB MEINES KLEINEN BUNDESBAHN-MAILSERVERS
   =================================================
   Ich habe ein Programm installiert, das allen Netzteilnehmerinnen und
   -teilnehmern Zugriff auf die Fahrplandaten der Deutschen Bahn AG
   ermoeglicht. Eine kurze Uebersicht:
   * Zunaechst nur 1154 Bahnhoefe, Kursbuch-CD wird installiert,
     sobald ich sie habe.
   * Eingehende Mail-Anfragen werden automatisch ueber Nacht bearbeitet
     und beantwortet.
   * Eine Mail-Anfrage muss an meine eMail-Adresse geschickt werden,
     sollte (muss aber nicht) das Subject "bahn" oder "rail" haben und
     muss folgende Zeilen enthalten:
     #FROM vonbahnhof
     #TO tobahnhof     
     #DATE mm-dd-yy
     #TIME hh:mm
     Neben diesen Zeilen sind beliebige andere nicht stoerend.
     Umlaute in den Bahnhofsnamen sind, wenn das System sie nicht unter-
     stuetzt, in TEX-Form anzugeben: "a, "o, "u, "A, "O, "U, "s.
     Bitte das englische Datumsformat beachten! Ich habe alles in Eng-
     lisch gemacht, da vermutlich sehr viele Leute aus dem Ausland an
     dem Service Interesse haben - hier in D bekommt man das ganze ja
     auch auf Diskette. 
Das ganze laeuft vorerst nur als TESTBETRIEB, sprich, ich schaue dem Programm meist ueber die Schulter, wenn es laeuft. Trotzdem freue ich mich ueber Test-Mails und Kommentare zu den Ergebnissen!

Donnerstag, 16. Juni 1994
Andreas Ley vom Rechenzentrum richtet mir eine Alias-Adresse rail@rz.uni-karlsruhe.de ein, so daß das Aussortieren von Mails aus meiner persönlichen Mailbox entfallen kann. Er hat außerdem ein mailto-Skript geschrieben, das es mir ermöglicht, den Benutzern ein WWW-Eingabeformular zu basteln, mit dem sie RailServer-Auskünfte abfragen können.

Montag, 20. Juni 1994
Der automatische Service funktioniert gut. Ich lasse meinen Rechner daheim zeitgesteuert zweimal täglich die Mail abholen und bearbeiten. Ich schicke eine Ankündigung in alle in Frage kommenden Newsgroups.

Montag, 15. August 1994
Der RailServer wird in der Zeitschrift "Focus" erwähnt.

Donnerstag, 25. August 1994
Der RailServer hat 9239 Anfragen aus dem Inland und 3218 Anfragen aus dem Ausland beantwortet.

Samstag, 27. August 1994
Ich schreibe einen Brief an HaCon, die Herstellerfirma der Software, die ich für die Berechnung der Auskünfte einsetze. Ich schlage vor, daß wir uns treffen und über eine "professionelle" Realisierung des ganzen reden. Antwort per Mail am 7. September:

Sehr geehrter Herr Ramm,

bevor von HaCon ein offizielles Statement kommt, will ich mich kurz melden und inoffiziell Stellung nehmen.

Wie Sie in Ihrem Brief vom 27. August 1994 bereits vermutet haben, war uns Ihr Railserver nicht unbekannt. Grundsaetzlich beurteilen wir diesen Service im Internet als positiv. Auch die DB AG ist prinzipiell bereit, diese Abfragemoeglichkeit zu akzeptieren, solange dies mit "ihrem" Auskunftsmodul geschieht.

Die vorgeschlagene Zusammenarbeit zwischen dem Rechenzentrum Karlsruhe und HaCon koennte auch durchaus der Weg sein, wie Sie (und wir) vorlaeufig mit dem Internet umgehen.

Unser Herr Dr. Kretschmer wird demnaechst mit Ihnen Kontakt aufnehmen, um die weitere Vorgehensweise zu klaeren. Bis dahin schlagen wir vor, dass Sie Ihren Privat-PC am Netz lassen...

Mit freundlichem Gruss
Werner Sommerfeld

Es kam später auch tatsächlich zu einem Treffen zwischen HaCon, einem Bahn-Vertreter und einigen Leuten vom Rechenzentrum, aber es wurde nie ein gemeinsames Projekt daraus.

Juni 1995
Zum einjährigen Jubiläum durchbricht der RailServer die Grenze von 1000 Anfragen/Tag, und mein 486er PC zuhause rechnet zuweilen schon 2 Stunden an einem Job.

Juli 1995
Eine Frankfurter Firma bietet online-Bahnauskünfte an; allerdings muß man sich bei "Germany.net" erst registrieren lassen, was bei vielen Benutzern auf Ablehnung stößt. Die Bahn AG eröffnet ihren eigenen Web-Server, jedoch ohne eigene Fahrplanauskunft. (Erst später wird ein Hyperlink zum RailServer eingefügt.)

September 1995
Das Rechenzentrum stellt mir einen PC zur Verfügung, der dort installiert wird und die Anfragen nun rund um die uhr bearbeiten kann. Sowas Dummes, ich hatte mich schon dran gewöhnt, bei mir zu Hause Leute zu beeindrucken mit dem Spruch, daß dieser Computer hier die Anfragen aus der ganzen Welt beantwortet...

Sonntag, 22. Januar 1996
HaCon fragt an, ob ich willens und in der Lage wäre, eine "richtige" Internet-Lösung für sie zu entwickeln. Schade, einen Tag früher, und die Anfrage wäre ein tolles Geburtstagsgeschenk gewesen. Klar will ich! Es entwickelt sich eine intensive Zusammenarbeit.

Juni 1996
Der RailServer ist zwei Jahre alt und lag in den letzten Monaten bei bis zu 2000 Anfragen pro Tag. Insgesamt hat er schätzungsweise eine halbe Million Anfragen beantwortet. Zugleich ist jedoch klar, daß er seine besten Tage hinter sich hat, denn der von mir für HaCon entwickelte Online-Service geht in den öffentlichen Betrieb. Dennoch halte ich den RailServer weiter am Leben, weil unklar ist, in welchem Umfang die Bahn AG HaCon erlauben wird, ihren Service kostenlos anzubieten.

Ich übernehme die Funktion des "WWW-Admin" für den HaCon-Dienst und beantworte alle Benutzerfragen und -beschwerden.

Dienstag, 6. Mai 1997
Der RailServer ist auf 500 Anfragen pro Tage geschrumpft. Einen Augenblick lang scheint es, als würde er wieder Bedeutung erlangen, als die DBAG den HaCon-Service zu schließen versucht (siehe eigenen Bericht hierzu). Zum Glück passiert das nicht - der RailServer mit seiner inzwischen veralteten Technik könnte die 20.000 Anfragen pro Tag, die HaCon bearbeitet, kaum verkraften.

September 1997
Ich beschließe, zum Fahrplanwechsel Ende des Monats keine neuen Daten mehr in den RailServer einzuspielen. Nach gut drei Jahren ist also ein Projekt zu Ende, für das niemand einen Pfennig Geld gezahlt oder gesehen hat, und das trotzdem vielen genützt hat. (Mich eingeschlossen - schließlich entwickelten sich auch geschäftliche Aktivitäten aus der Sache.) Besonders froh bin ich über die vielen Nutzer aus dem Ausland, die über den RailServer Reisen planen konnten, die sie sonst vielleicht wegen der Ungewißheit mit einem Mietwagen gemacht hätten.

Auf die Mailadresse rail@rz.uni-karlsruhe.de wird ein automatischer Beantworter gesetzt, und ich versuche, den RailServer langsam aus allen Hotlists und Suchmaschinen zu eliminieren. Ich kriege eine Menge Dankes-eMails.

Die aufkommende Melancholie bekämpfe ich, indem ich mir sage, daß der RailServer seinen Dienst getan hat und die geringe Zahl von Anfragen in den letzten Wochen wirklich die Mühe, ihn am Leben zu halten, nicht mehr rechtfertigt.

Ende März 1998
Der HaCon-Dienst hat nun über 100.000 Anfragen an guten Tagen. Ich gebe den Job als "WWW-Admin" für HaCon auf, um mich voll auf meine Diplomarbeit zu konzentrieren: Ein Java-Interface für die Bahnauskunft...

Ende Mai 1998
Diplomarbeit fertig, Studium zu Ende - jetzt kommt die Bahn hoffentlich auch ohne mich aus :-)

T H E   E N D


  Frederik Ramm, 2002-07-12