Höchster Kreisblatt, Montag, 13. November 1989, S. 3

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Die neuen Einkaufsparadiese für Leipzig, Plauen, Zwickau

Von Peter Schmalz

Jutta, die junge Juristin aus der Stadt, die einmal Chemnitz hieß und die jetzt Karl-Marx-Stadt genannt werden muß, will das Staunen nicht lassen. "Warum machen Sie das nur?" fragt sie, "warum denn nur? Ich kann das nicht verstehen." Mit ihrem Mann ist sie morgens im Trabi herübergekommen, und sie waren eigentlich recht schnell in Hof, weil sie einen Schleichweg gefunden haften und nur 15 Kilometer Grenzstau überwinden mußten, wo doch die übliche Wartezeit an diesem Samstag für DDR-Bewohner selbst bei flotter Abfertigung sieben Stunden und mehr betrug.

Inzwischen ist es Abend geworden an einem sonnigen Tag, der in der kleinen bayerischen Grenzstadt schon deswegen in die Gemeindegeschichte eingehen wird, weil seit Menschengedenken noch nie auch nur annähernd so viele Menschen gleichzeitig durch die Straßen gebummelt sind. Jutta und ihr Mann sind zwei davon. Sie haben einen Rock für die zierliche Frau gekauft, zögern jetzt noch, ob sie in der klaren und kalten Mondnacht zurückfahren sollen. Der Trabi hat zwar eine Heizung, aber kein Gebläse, weshalb Warme zwar bei voller Fahrt strömt, nicht aber im Stau der Rückreisenden.

Wir wärmen uns in einer Wirtschaft bei einem Wein, und Jutta sagt: "Warum schenkt ihr uns einfach 100 Mark, wenn wir zu euch kommen? Wo habt ihr nur soviel Geld her? Ihr habt doch auch eure Probleme." Sie weiß von Wohnungsnot und Langzeitarbeitslosen. In der Tat wurde nicht wenig Geld verschenkt an diesem Tag. Gegen 18 Uhr erfährt Oberbürgermeister Dieter Döhlit eine Zahl, die er ohne sichtliche Regung entgegennimmt. An diesem Tag hat er sich das Wundern abgewöhnt. Schon mehr als 40 000mal wurde das Besuchsgeld ausgezahlt, das auf dem Amtspapier bürokratisch kühl als "Bargeldhilfe" definiert ist. Und noch immer winden sich Warteschlangen vor den Ausgabestellen. "Heute", meint der Oberbürgermeister, waren mindestens ebenso viele Besucher in unserer Stadt, wie wir Einwohner haben." Letzteres sind nach der jüngsten Zählung 52300.

Das Warum ist Jutta relativ leicht mit Grundgesetzpräambel, deutsch-deutscher Verbundenheit und bundesdeutscher Leistungsbilanz zu erklären. Schwerer fällt's dem städtischen Sozialamt dagegen, die notwendige Menge blauer Scheine heranzuschaffen.

Gegen Mittag herrscht kurzfristig Ebbe, Nachschub muß von der Landeszentralbank herangeschafft werden.

Lange sind die Begrüßungs-Blauen allerdings nicht Im Umlauf. Schon bis zum Abend haben die meisten von ihnen den Weg zurück in westliche Kassen gefunden. "Die Stadt wfrd leergekauft", staunt ein Geschäftsmann.

Der Ansturm ist so massiv, daß die Innenstadt in den späten Morgenstunden für den Autoverkehr gesperrt wird, und so kann sich der Menschenstrom ungehindert durch die Einkaufsstraßen wälzen.

Die Ladenschlußzeiten sind für dieses Wochenende aufgehoben, die meisten Geschäfte verlängern spontan. "Bei uns waren die Deutschland-Straßenkarten als erstes ausverkauft", erzählt die Buchhändlerin Heide Schmidt.

Günter Laubmann, Chef eines Haushaltswarengeschäfts, setzt vor allem Haarscheren, Thermosflaschen und Stahlpfannen ab. Bei Elektro-Neckermann bleiben abends leere Regale und sogar geleerte Schaufenster zurück; Radiorecorder und Walkman waren die Renner. Und bei Tchibo wird bis zur letzten Bohne verkauft. Filialleiterin Evelin Dankbar: "An unseren Nachschub im Nürnberger Hafen kommen wir erst am Montag wieder ran."

Das mag ärgerlich sein für den Umsatz, denn auch am Sonntag kommen wieder Tausende, die gerne ein paar West-Mark für einen Bohnenkaffee hinlegen. Aber wer denkt schon daran, daß beim Verkaufen noch ganz andere Schwierigkeiten auftreten können. Zum Beispiel die mit dem Kleingeld. Erich Schlossbauer, der Leiter einer Drogerie, erläutert gerade, daß nicht einmal zur Eröffnung so viele Käufer in seinem Laden waren, daß besonders preiswerte Seifen und Deosprays gefragt sind und daß ein Sonderangebot, das eigentlich fürs Weihnachtsgeschäft gedacht war, total abgeräumt ist, da ruft eine Verkäuferin: "Ich brauch' Fünferl."

Die aber gibt's nicht mehr. Und da erfährt der Laie, daß beim Verkaufen Wechselgeld so wichtig wie Ware ist. Ums Haar wäre deshalb das verkaufsoffene Wochenende gescheitert, aber dann schickt der Hofer Lokalsender einen Hilferuf an die Banken in den Äther, der schnell gehört wird. Bankfilialen öffnen, wechseln Ost-Mark zum Kurs von eins zu zehn und versorgen die Ladenkassen mit Münzen. Nur die Sparkasse muß passen: Deren Tresor ist mit einer Zeituhr gesichert und kann erst montags geöffnet werden.

Der Lokalsender fragt übrigens den schönen Namen "Radio Euroherz". "Weil wir", sagt Geschaftsführer Heinz Zrenner," mitten im Herzen Europas liegen." Als der Name vor Monaten gefunden wurde, wirkte das angesichts der politischen Geographie ein wenig vermessen. Hof gilt als das "Sibirien Bayerns", und das nicht nur der kalten Witterung wegen. Unmittelbar am Grenzdreieck mit der DDR und der CSSR war es auch wirtschaftlich ins Abseits geraten. Die Jugend wanderte ab, die Bevölkerungszahl von einst 60 000 sank. Die einst wohlhabende Stadt, die Handelsbeziehungen nach Thüringen, Sachsen und Böhmen unterhielt, verfiel zum ökonomischen Aschenbrödel.

Aber seit diesem Wochenende hat die Hoffnung in Hof eine neue Zukunft. "Wir werden wieder das Herz Europas", daran hat der Oberbürgermeister keinen Zweifel. "Heute ist für uns ein Freudentag, auf den wir 40 Jahre gewartet haben." Die Stadt werde nun zu einem Einkaufsparadies zwischen Ost und West. "Nach Leipzig", sagt er, "ist es von Hof aus nicht weiter als nach Nürnberg". Plauen mit 80000 Einwohnern liegt nur ein paar Kilometer entfernt, Zwickau mit 120 000 nicht viel weiter: "Für mich ist heute ein Traum in Erfüllung gegangen."

Womöglich begegnete auch der junge Mann aus Hof an diesem Tag seinem Traum. Er bittet um einen Kugelschreiber und tauscht mit einem blonden Mädchen die Adressen aus. Beim Bummeln durch die Stadt haben sie sich getroffen. "Vielleicht sieht man sich drüben auch mal", sagt der Junge aus dem Westen. Und die kleine Blondine aus dem Osten sächselt: "Na, vielleicht wird's für euch mal so leicht rüberzukommen wie für uns."


  Frederik Ramm, 2001-07-22